Der fünfte Jahrestag eines Traumas

Samstag, 19. Mai 2001.
Wir hatten die gesamte Saison in der Dachgeschosswohnung eines Bayern Fans auf Premiere verfolgt. Damals musste man noch jede Woche sein Topspiel freischalten lassen, wir sahen meist die Partien von S04, ab und an auch mal die Bayern oder die Konferenz.
Danach, vor allem bei schönem Wetter suchten wir den Weg in die Poststrasse mitten im Herzen Siegens, wo man so vorzügliche Biergärten, Kneipen und die dazugehörigen Getränke geniessen kann.

An diesem Samstag wurde die Ein-Zimmer-Bude von etlich mehr Personen als die üblichen drei Verdächtigen bevölkert. Die Sympathien hielten sich fast die Waage. Zwei Bayern-Fans standen drei Schalker sowie zwei Frauen gegenüber.
Der Grund war allzu banal. Schalke hatte zwei Punkte Rückstand auf die Münchener, die in Hamburg spielten, während Königsblau den designierten Absteiger aus Unterhaching empfing. Die Vorberichterstattung begann schon um 14.30, damals noch mit Jörg Wontorra im KICK-Studio.
Beide Stadien waren wie die Wohnung bis auf den letzten Platz besetzt, als die Schiedsrichter die Partien anpfiffen.

Nach einer halben Stunde Ernüchterung auf Schalker Seite, Unterhaching führte durch Breitenreiter (heute Holstein Kiel) und Spizak (bis 30.6. noch SF Siegen; welch Zufall bei beiden) mit 2:0. Aber die Schalker kämpften sich bis zur Pause wieder zurück ins Spiel, 2:2 (van Kerckhoven, Asamoah). In Hamburg passierte so gut wie nichts bis dahin.
Stand 46.Minute: 1. Bayern, 2. Schalke, wie gehabt.
Schalke spielte nach der Pause eher verkrampft weiter, in der 69.Minute ging Haching durch Seifert wieder in Führung.
Postwendend die Zeit des in dieser Saison überragenden Jörg Bohme. 3:3 (71.) und 4:3 (74.). Die Freude in der Siegener Wohnung kannte keine Grenzen. Nun übertrug Premiere permanent die Hamburger Partie, denn es war klar, das bei einem Tor des HSV der Fc Schalke 04 erstmals seit 1958 die Meisterschaft feiern würde. Wir Schalker hatten schon eine der Frauen damit beauftragt, im Fall der Fälle sofort den Motor anzuschmeissen, um die 130 Kilometer nach Gelsenkirchen so schnell als möglich zu überbrücken.
Irgendwann schoss Ebbe Sand mit seinem 22. Saisontor noch das 5:3, was aber in unserer Anspannung eher unterging.
In der 89. Minute dann das unfassbare. Der Ball kommt zu Marek Heinz, der macht zum ersten und einzigen Mal in der Bundesliga was richtig, flankt den Ball von halblinks in den Strafraum, direkt auf den Kopf von Sergej Barbarez. Der Ball fliegt in die vom Torwart ausgesehen, untere linke Ecke, Kahn kann ihn nicht erreichen. 1:0 Hamburg.
Ausgelassener Jubel in der Wohnung. Bei dreien zumindest, Enttäuschung bei den Bayern-Fans, eine Wand bekommt eine empfindliche Delle dank eines Schlages eines der scheinbar gefrusteten Unterlegenen.(gut, das es der Wohnngsinhaber selber war)

Das Auto wird schon angeworfen, als ein Zweikampf in Richtung des von Matthias Schober (ausgeliehen von Schalke!) gehüteten Gehäuse abgefälscht wird. Dieser wirft sich auf den Ball, Markus Merk pfeift Freistoß für Bayern zirka 8 Meter vor dem Tor, in halblinker Angriffsposition.
In Siegen lagen der Wohnungsinhaber und ich auf dem Boden, mit dem Gesicht 50 Zentimeter vor einem großen Fernseher, aus unterschiedlichen Gründen Nägel kauend, die Spannung war greifbar. Alle verhielten sich völlig ruhig, jedes Wort wurde mit einem Psst mehr oder weniger freundlich unterbrochen.

Dann das Unfassbare. Patrick Andersson schießt, Andreas Fischer, der am Pfosten stand, zieht sein Bein ganz komisch weg und der Ball zischt in die Maschen. Marcel Reif darf rufen, "der Fc Bayern ist Meister" und "so etwas habe ich noch nie erlebt", Oliver Kahn reißt eine Eckfahne raus, Franz Beckenbauer und Gerhard Meyer-Vorfelder fallen sich um den Hals, während in Gelsenkirchen der von Fans überflutete Rasen statt Freuden-, Enttäuschungstränen in die Drainage bekommt. Dort war man aufgrund falscher Informationen 4 Minuten und 30 Sekunden von der Meisterschaft ausgegangen, bevor die Live Szenen des Freistoßes über die Leinwand liefen. Der Meister der Herzen ward geboren.

In Siegen erlebe ich wie in Trance, das mein liegender Nachbar einen Freudensprung hinlegt, bei dem sein Kopf gefährlich nah an die Zimmerdecke gerät, ein anwesender Schalke-Fan brüllt nur Scheisse, schmeißt sein Sitzgerät (hier: ein Holzstuhl) wutentbrannt hinter sich, knallt die Wohnungstür und ist weg.

Matthias Schober spielte nie wieder für Schalke, Andreas Fischer beendete seine Karriere, Markus Merk pfiff nie wieder ein Spiel des Fc Schalke 04.
Eine Woche später holten wir wenigstens den DFB-Pokal, der Fc Bayern wurde in diesem Jahr Champions League Sieger.
Und ich bekomme jedesmal wenn ich die Reportage "4 Minuten im Mai" sehe einen Kloß im Hals. Von der Aufregung und Anspannung nur vergleichbar mit dem Elfmeterschießen 1997 in Mailand.

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Sichtweisen eines Schalkers

Auch unsere Mannschaft wird einmal vor 90.000 Zuschauern spielen. (Willi Gies, Gelsenkirchen im Jahre 1904)

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